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Sonntag, 28. September 2008, 10:25

Alles in einem Abwasch

Gestern saß ich in der Unibibliothek und recherchierte noch ein wenig für meinen nächsten Blog zur polnischen Geschichte, als ich neben mir Studenten maulen hörte, die sich über die Geschwindigkeit der Computer in der Bibliothek beschwerten. Plötzlich lief bei mir ein Erinnerungsfilm ab:
Als ich Anfang der Neunziger mit dem Studium begann, da hatte ich noch gar keinen Computer. Ich komme aus einer größeren Arbeiterfamilie, in der alles in einem Abwasch lief. Ansprüche zu stellen, das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ansprüche an die Eltern? Ansprüche an eine Generation, die den Krieg erlebt und überlebt hatte? Ich war lange Zeit das einzige Kind, das studierte und damals glücklich genug, überhaupt studieren zu dürfen. Es war für mich ein Privileg.
Mein erster hart verdienter Computer fiel dann im Jahre 1994 recht schnell einem Wasserschaden meiner Mietwohnung zum Opfer, und so etwas wie eine Hausratversicherung hatte ich natürlich nicht für das 12-qm² Zimmer (mein Vermieter auch nicht), das ich in einer größeren Wohnung mit zwei anderen Studenten bewohnte. Auch das war alles in einem Abwasch, wenn man bedenkt, dass wir in der WG geschlagene zwei Jahre morgens zum Hallenbad fuhren, um duschen zu können. Um acht Uhr fing schließlich stets mein Intensivkurs Latein an, das hieß, ich musste etwa 6:00Uhr morgens aufstehen, um dann im Hallenbad zu sein. Eine Dusche gab es in der Wohnung nämlich auch nicht.
Und während ich die neben mir weiter maulen höre, bin ich froh, dass früher mehr in einem Abwasch war und ich mir bis heute eine gewisse Bescheidenheit erhalten habe. Manchmal denke ich auch: Arme, reiche Welt!

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Sonntag, 28. September 2008, 15:09

Hallo Mulder,
während ich deinen Beitrag durchlas, war ich die ganze Zeit am Überlegen, worauf du jetzt eigentlich hinaus willst, d.h. welchem konkreteren Thema sich dieser Thread zuordnen lässt. Bis ich dann wieder nach oben schaute und noch mal den Titel las: "Alles in einem Abwasch". Also gut, warum nicht? Rein hier mit allem, was euch auf der Seele lastet. :oczko

Na ja, ein gewisses Kernthema sehe ich eigentlich doch, das man vielleicht so beschreiben könnte: "Die rasante Veränderung unserer Lebensbedingungen und Einstellungen durch die Computerisierung unter besonderer Berücksichtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen".

Das 20. Jh. stand technisch gesehen unter dem Motto "Verkehrsmäßige Erschließung der Welt", und fast alles, was dafür notwendig war (vor allem Auto und Flugzeug), wurde gegen Ende des 19. Jh. erfunden. Diese Entwicklung ist weitestgehend abgeschlossen, denn wesentlich schneller wird es auf unserer Erde nicht gehen. (Wer daran noch zweifelt, sei an das Schicksal der Concorde und des Transrapid erinnert: Technisch machbar ist vieles - bloß es rechnet sich einfach nicht und wird es auch nie.) Und diese Entwicklung hatte ihren Preis - die Entfremdung von der Natur.

Nun scheint es in der jüngeren Menschheitsgeschichte Mode zu werden, dass sich alles in Etappen von 100 Jahren vollzieht. Denn jene technische Erfindung, die das 21. Jh. ganz entscheidend prägen wird - das Internet -, wurde auch wenige Jahre vor der Jahrhundert-(in diesem Fall sogar der Jahrtausend-)Wende gemacht. Dazu könnte man natürlich noch den Computer ganz allgemein sowie das Handy rechnen, doch ich denke, dass dies bald alles zu einer Einheit verschmelzen wird. Wahrscheinlich wird es in spätestens 20 oder 30 Jahren Handys geben, die man auseinanderfalten kann, und dann hat man vor sich einen superflachen 17-Zoll-Bildschirm und eine superflache handgerechte Tastatur.

Paradoxerweise hat diese Entwicklung, die doch eigentlich die Kommunikation zwischen Menschen enorm erleichtert und beschleunigt, ihren Preis gerade darin, dass die zwischenmenschliche Kommunikation zunehmend auf der Strecke bleibt. Dazu auch von mir ein sehr anschauliches Beispiel: Als ich vor zwei Monaten mit dem Zug von Warschau nach Berlin zurückfuhr, betraten drei junge polnische Studenten - eine Frau und zwei Männer - mein Abteil, glotzten mich an, sagten kein Wort, setzten sich hin, packten ihre Laptops und Handys aus und waren wenige Sekunden später geistig in einer ganz anderen Welt. Ich war völlig perplex. Noch vor 15 Jahren, als ich längere Zeit in Warschau wohnte, war es geradezu undenkbar, dass in Polen jemand ein Zugabteil betritt, in dem schon jemand sitzt, und noch nicht mal "Dzień dobry" sagt.
Nun ja, wenn ich das mal indirekt mit der Zeit vor 100 Jahren vergleiche, ist das wohl ungefähr so, wie wenn im Jahre 1908 statt einer gemütlichen Pferdekutsche plötzlich ein lärmendes stinkendes Auto angerattert kam und den am Straßenrand Stehenden den Schlamm ins Gesicht spritzte.

Die technische Entwicklung des 20. Jh. hat letztlich zu einer Gegenbewegung unter dem Generalmotto "Zurück zur Natur" geführt, die die Entwicklung zwar nicht aufhalten, aber zumindest einige ihrer schlimmsten Auswüchse abmildern und in vernünftigere Bahnen lenken konnte. Wollen wir hoffen, dass sich Ähnliches auch bald in Bezug auf den zwischenmenschlichen Umgang anbahnt.
Signatur von »Matti« ... und nein: Das in Polen an vielen Straßen anzutreffende Warnschild mit der Aufschrift 'PIESI' bedeutet nicht, dass mit auf der Straße herumlaufenden Hunden zu rechnen ist! :haha

(pies, pl. psy -> Hund --- pieszy, pl. piesi -> Fußgänger) :oczko

Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von »Matti« (28. September 2008, 15:20)


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Sonntag, 28. September 2008, 15:50

Zitat

Matti



Hallo Mulder,
während ich deinen Beitrag durchlas, war ich die ganze Zeit am Überlegen, worauf du jetzt eigentlich hinaus willst, d.h. welchem konkreteren Thema sich dieser Thread zuordnen lässt. Bis ich dann wieder nach oben schaute und noch mal den Titel las: "Alles in einem Abwasch". Also gut, warum nicht? Rein hier mit allem, was euch auf der Seele lastet.


Ja, Matti,

es war einfach eine Reise in die Vergangenheit, wie ich da saß und las. Ich habe an dieser Universität einen großen und wichtigen Teil meines bisherigen Lebens verbracht und einfach gesehen, dass sich Orte vielleicht nicht so schnell ändern, aber die Menschen. Und vielleicht dadurch wieder die Orte? Mir war einfach aufgefallen, dass es noch ein Leben ohne Computer gab und man auch überlebte. Du hast das richtig ergänzt: Die Art und Weise, was man heute bewertet (Geschwindigkeit) und wie man heute kommuniziert, hat sich doch durch die technologische Kommunikation stark verändert. Ich will keinesfalls alles negativ bewerten, immerhin können wir ja auch über dieses Forum beispielsweise miteinander Kontakt aufnehmen, aber die Nähe am Menschen war doch etwas anderes. Wusstest du, dass zwei sich fremde Menschen im 18. Jahrhundert auf ihrer Durchreise kein Problem damit hatten, in der Nacht in einem Bett zu schlafen, wenn sie in der gleichen Übernachtungsstätte waren? Diese Nähe meine ich natürlich nicht, wenn ich die Individualisierung und Anonymisierung der Moderne beklage. Aber es erstaunt schon sehr, dass wir in einer an sich so offenen Gesellschaft zunehmend verschlossener werden. Ich glaube, dass wir heute zugemüllt sind mit einem stetig wachsenden Anspruchsdenken, dass durch die neuen Medien erstaunlich zugenommen hat. Und für ein D-PL-EU-Forum dürfen ja auch mal gesellschaftskritische Allgemeinplätze thematisch besetzt werden, oder? Alles in einem Abwasch :ostr

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Sonntag, 28. September 2008, 16:07

Hallo!

Ich habe vor kurzem eine interessante Doku gesehen an die ich gerade denken musste, als ich Mulders Beschreibung der Studenten gelesen habe, die über langsame Computer maulen.

Passt auch irgendwie ins Thema, es geht um Zeit, Zeitknappheit, Zeitdruck...

Man kann sich die Sendung online ansehen(erster Link im grauen Kasten)
http://tinyurl.com/4n94ej
Die Zeitraffer - Von der Ent- schleunigung unserer Zukunft

Gruß
Ola
Signatur von »Ola« Nevermore...

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Sonntag, 28. September 2008, 16:13

Hallo Ola,

super-Link!! Ja, die Schnecke, mein Lieblingstier :ostr.

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