Original von Sicilia
In Russland haben die Männer die geringste Lebenserwartung in ganz Europa, statistisch gesehen, eben wegen des hohen Alkoholkonsums. Ist die Frage berechtigt, ob das mit der osteuropäischen Mentalität zusammenhängt?
Hallo Sicilia,
zu Deinen Ausführungen einmal einige Anmerkungen von mir:
Sicherlich ist es richtig, dass die Männer in Russland keine sonderlich hohe Lebenserwartung haben, dies aber allein dem übermäßigen Alkoholgenuß zuzuschreiben, wird der Sache meines Erachtens nicht ganz gerecht.
Das Problem liegt sicherlich tiefer.
Grundsätzlich ist es zunächst einmal so, dass - trotz der vielen Umbrüche der letzten Jahrzehnte in Russland - sich russische Männer auch heute noch gern in der Rolle des selbstverliebten "Muschik", wie der Macho dort genannt wird, sehen und dies in der russischen Gesellschaft auch immer noch so hingenommen wird. Die Russinnen beklagen zwar seine moralische Schwäche und den Mangel an Verantwortung, die Mehrheit bewundert ihn aber dennoch oder aber stellt ihn derzeit kaum in Frage. Die (noch) weitestgehende Bewunderung für Putin, einem "Muschik" par exxellence mit teilweise mehr als derben Sprüchen, zeigt dies deutlich.
Seit der Regierungszeit Iwans des Schrecklichen gilt bis heute einer der Sinnsprüche: "Bestrafe die Kinder in der Jungend und sie verschaffen Dir Ruhe im Alter!" Liebe und Zärtlichkeit sollten vor dem Kind versteckt werden. Nur gegenüber der Obrigkeit, also dem Staat, mussten und müssen Männer Gehorsam zeigen.
Dann kam das Zwangssystem der Sowjetunion und dies setzte die Unterdrückung der männlichen Unabhängigkeit weiter fort. Ergebnis: Männer konnten gesellschaftlich nicht hoch aufsteigen, aber heroisch auch nicht scheitern. Es gab keinen Sinn mehr im Leben und auch Wohlstand war nicht zu erreichen. Der Mann war lediglich zum Ernährer der Familie degradiert. Und Eigenständigkeit galt grundsätzlich als gefährlich und negativ.
Dies alles hat sich mit dem Untergang der Sowjetunion zwar geändert, der Muschik erlebt eine neue Renaissance. Dem steht nun aber eine neue Situation gegenüber - die Geschlechterdomänen sind, vor allem in den Großstädten, kräftig durcheinandergeraten. Frauen treten immer häufiger in direkte Konkurrenz zu Männern um Posten und Aufgaben. Daher flüchten die Männer in "Männergesellschaften", sie möchten Arbeit und Freizeit mit anderen Männern, ihren "Leidensgenossen" verbringen. Und dazu gehört ein ordentlicher Schluck, zumeist Wodka. Wer in Gesellschaft trinkt, gehört dazu, ist einer von uns, so die allgemeine Einstellung.
Das Bindemittel der russischen Männergesellschaften ist - meist - der Alkohol. Hat Bier-Reklame im Westen eher den Individualtrinker im Visier, wird z.B. Biertrinken in Russland als kollektive Bewährungsprobe und männliches Vertrauensritual verstanden.
Zur niedrigen Lebenserwartung kommen nun aber noch weitere Aspekte hinzu.
Zum einen wird das eigene Leben als geringwertig eingestuft. Das Verheizen von Männern während der Tschernobylkatastrophe ist ein Paradebeispiel hierfür. Hierbei wird auch deutlich, dass der Staat kein sonderlich großes Interesse daran hat, dem Bürger, sprich dem russsichen Mann, den Wert des eigenen Lebens näherzubringen: Es gibt in Russland heute so etwas wie eine Art Kultur, sich eben NICHT um die eigene Gesundheit zu kümmern.
Der Anfang einer Trendwende ist mittlerweile aber zu spüren, wenn auch nur in schwacher Form. Noch.
Ein weiterer Aspekt ist das Rauchen. Weltweit führt Russland die Statistiken an bei Todesfällen, die mit dem Rauchen zusammenhängen. 60 Prozent der Männer in Russland rauchen, fast doppelt so viele wie in Deutschland.
Und - es gibt keinen Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz, ungesundes Essen, schlaflose Nächte, mangelhafte medizinische Versorgung und Verkehrsunfälle fordern ihren zusätzlichen Tribut. Allein auf den Straßen des Landes verunglücken jedes Jahr mehr als 30.000 Menschen tödlich, fast zehnmal so viele, wie in Deutschland. Der Strassenverkehr bietet die Alltagsarena für den maskulinen Wettkampf - wer sich anschnallt gilt als verweichlicht oder sogar geistig verwirrt.
21.000 Russen werden jedes Jahr ermordet, 30.000 Menschen verschwinden spurlos, 40.000 begehen Selbstmord.
120.000 Russen erkranken jedes Jahr an Tuberkulose und jedes Jahr raffen Infarkte und Herz-Kreislauf-Erkrankungen fast eine halbe Million Männer dahin.
Soweit mein Anmerkungen. Inwieweit dies auch auf Polen zutrifft .....