Original von amiranda
Hallo,
Ich komme aus Polen und mich würde sehr interessieren, welche Einstellung die Deutschen zur Religion haben ? SInd sie religös? Wie sieht die Situation mit Steuern aus ? wie Lebt ihr Religion aus, was hat aus eurer Sicht der Dinge das einen Einfluss auf den Alltag? Gibt es spezielle Riten? Für jede Information, die der Religion in Deutschland betrifft, wäre ich dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Ich kann natürlich nicht sagen, wie alle Deutsche Religion und Kirche gegenüber stehen. Aber vielleicht hilft meine Beobachtung?
Ich denke, die Deutschen trennen sehr stark zwischen Glaube und Kirche. Und die meisten leben wohl nach dem Motto, dass Gott, wenn es ihn wirklich geben sollte, diese Kirche nicht gewollt hätte.
Als Beispiel: In Italien fiel mir eine sehr alltägliche Religiösität auf. Man geht nicht immer in die Kirche, aber doch oft. Sobald es Kummer gibt, ist der Priester die Beicht- und Bittstelle. Man betet zwischen Arbeit und Mittagpause. Der Glaube ist im Alltag versteckt.
In Deutschland ist, finde ich, diese Trennung aus Glaube und Kirche sehr typisch.
Es gibt viele, die von sich sagen, sie seien Christen. Sie gehen aber nicht wirklich in die Kirche. Auch ist ihr Glaube kein wirklich Christlicher. Christlicher Glaube ist in Deutschland stark an den Glauben an "irgendeinen" Gott gebunden. Jesus Christus spielt dabei kaum eine Rolle. Man betet meistens zu Gott, nie zum Heiland. Maria wird nur in Süddeutschland angebetet. Viele, die in der Kirche sind, gehen nur zu Weihnachten hin, weil das Ritual so schön ist... oder wollen kirchlich heiraten. Ansonsten glauben sie schon "irgendwie" an Gott, aber wie, dass wissen sie auch nicht so genau.
Andere sind tief religiös, aber nicht in der Kirche. Ihren Glauben leben sie eher still für sich im Alltag. Sie halten die Kirche für eine dogmatische Irrlehre und glauben, dass allein Gott es zu steht, über ihr Leben zu Urteilen. Viele von diesen Menschen lesen die Bible als metaphorisches Buch. Jesus Christus wird hingenommen, aber nicht unbedingt als eingeborener Sohn Gottes empfunden. Manche dieser Menschen klauen sich hier und dort kleine Inhalte aus anderen Religionen und integrieren sie in ihren christlichen Glauben.
Dann gibt es die streng religiösen Menschen - auch diese gibt es in Deutschland. Die meisten werden belächelt - aber kaum einer begegnet ihnen wirklich. Ich habe in meinem Leben sieben sehr religiöse Familien getroffen. Alle, bis auf eine, waren sehr nett und unauffällig. Kaum einer wußte über ihre Religiösität, obwohl sie vor jeder Mahlzeit gebetet haben.
Manchmal habe ich auch das Gefühl, es gilt als schick Atheist oder Agnostiker zu sein. Jene Menschen sehen sich oft als "vernünftig" an. Gerade unter männlichen Akademikern ist es eine weitverbreitete Haltung. Sie begründen das aber oft mit ihrer Ablehung der katholischen Kirche.
Die meisten Menschen in Norddeutschland (in Süddeutschland weiß ich es nicht wirklich) wachsen ohne großen Kontakt zur Religion auf. Sie gehen in einen kirchlichen Kindergarten, aber meistens merkt man nicht viel davon. Haben dann in der Schule Religionsunterricht und lassen sich am Ende (oft wegen der Geldgeschenke) konfirmieren - und das war es dann.
Im Alltag:
Religion ist oft etwas, was einem gerade passt, aber keine Verpflichtung. Man nimmt sich, was man braucht und schmeisst den Rest weg. Und nebenher schimpft der normale Deutsche viel über die Scheinheiligkeit der Kirchenoberen. Weihnachten gehen trotzdem viele in die Kirche, weils hübsch ist.
(Nachträglich eingefügt - trotzdem gibt es sehr, sehr viele Menschen, die an Gott glauben, ohne in der Kirche zu sein, oder die Gottesdienste aufzusuchen. Glaube wird oft als etwas Persönliches empfunden.)
Die Kirchensteuer:
Die Kirchensteuer wird vom Staat eingetrieben, sobald man in der Kirche ist. Je mehr man verdient, um so mehr zahlt man. Eine Freundin von mir ist aus der Kirche ausgetreten, weil ihr Mann (Atheist) sonst 1000 Euro pro Jahr für ihren Glauben bezahlt hätte. Und sie wollte es ihm nicht zumuten, für ihre Religion zu zahlen, obwohl er die Kirche ablehnt.
Zu mir:
Ich bin in einer atheistischen Familie aufgewachsen, war aber in einem kirchlichen Kindergarten. Meine Eltern selber glauben nicht an Gott, wollten aber, dass ihre Kinder sich selbst entscheiden. Daher hatten meine Schwestern und ich Religionsunterricht. Ich bin als kleines Kind von meiner Mutter oft in den Gottesdienst begleitet worden, weil ich wissen wollte, wie das ist. Und ich durfte bei unseren Nachbarn an der Bibelstunde teilnehmen - sie waren strenggläubig.
Als ich alt genug war, mich konfirmieren zu lassen, haben meine Eltern uns die Wahl gelassen. Entweder wir lassen uns konfirmieren, dann bekommen wir eine Feier und die Geldgeschenke. Oder wir lassen uns nicht konfirmieren und bekommen das Geld, dass sie für die Feier gezahlt hätten.
Ich und meine jüngste Schwester sind nicht konfirmiert. Meine mittlere Schwester ließ sich taufen und konfirmieren. Mein Vater hat zwar geschimpft, aber er war bei der Taufe und Konfirmation dabei. Meine Mutter glaubt heute an "irgendeinen" Gott und dass alles im Leben einen Sinn hat - aber sie ist nicht in der Kirche. Mein Vater ist immer noch Atheist.